08.01.2023 – Kriegsenkel und Metamorphose
Ich lese zurzeit das Buch „Die Kraft der Kriegsenkel“ von Ingrid Meyer-Legrand.* Es erzählt davon, wie eine Generation, die eigentlich nichts mit dem zweiten Weltkrieg zu tun hat, noch immer unter ihm leidet. Sekundär Traumatisierung. Es erzählt, aber auch von den Stärken und Chancen der Kriegsenkel. Doch soweit bin ich noch nicht, also im Buch. Sollte ich soweit sein, werde ich auch davon berichten.
Meine Großeltern haben den Krieg erlebt. Mein einer Großvater flüchtete sich in die Oberpfalz, wo er meine Oma kennenlernte. Mein anderer Großvater war in Norwegen stationiert. Während der eine Opa, oft davon erzählte, wie er auf der Flucht war, wie er so schüchtern war, dass er sich nicht einmal traute um ein Butterbrot zu bitten, als er meine Oma kennenlernte, hat der andere Opa geschwiegen und seine Erinnerungen im Alkohol ertränkt. Ich mochte sie beide sehr gerne, beide auf ihre Weise.
Das Erbe
Interessant für mich ist, dass ich immer wieder das Gefühl habe, nicht angekommen zu sein, mich auf einer Suche befinde, von der ich nicht weiß, was ich eigentlich suche. Getrieben vom Wunsch endlich ankommen zu wollen. Mich immer wieder starke Selbstzweifel plagen, ich angetrieben bin mir durch Fachbücher noch mehr Wissen, noch mehr Kenntnisse einzuverleiben, damit niemand merkt, dass ich eigentlich nichts kann. Nach Außen mag das nicht so scheinen. Frau Meyer-Legrand, sagt in ihrem Buch, dass es vielen Kriegsenkeln** so geht. Viele sind im Job erfolgreich, leben in liebevollen Beziehungen und haben doch das Gefühl nicht angekommen zu sein, sind geplagt durch Selbstzweifel. Es sind die Auswirkungen des Kriegs, Traumatisierungen, die weitergegeben wurden an die Kriegsenkel.
Im Wartesaal
Wenn man sich die Geschichte anschaut, dann sind selbst unsere Großeltern, die ja den Krieg erlebt haben, noch vom ersten Weltkrieg belastet, auch wenn sie erst nach dessen Ende geboren wurden. Ihre Eltern, ihre Familien erlebten den ersten Weltkrieg, anschließend vermutlich sogar den zweiten Weltkrieg. Jeder der Kriege hat Spuren in den Familien hinterlassen. Vertreibung, Verluste, Hunger. Dann kam der zweite Weltkrieg. Wieder wurden Menschen in den Tod geschickt. Wieder Vertreibung, Verwandte, die starben, Menschen auf der Flucht, Männer in Gefangenschaft, die grausiges erlebten und erleiden mussten, Hunger, Frauen und Kinder auf der Flucht, die vielfältiger und grausiger Gewalt ausgesetzt waren. Am Ende versuchten alle nur irgendwie zu überleben, sich etwas aufzubauen, den Krieg und die Erlebnisse zu vergessen. Übrig bleiben Menschen mit nicht bewältigten Traumata, die an die nachfolgenden Generationen weitergegeben wurden***.
* Dieser Link führt Sie zu Thalia. Das Buch habe ich selbst erworben.
** Als Kriegsenkel gilt nach Susanne Bode die Generation, die zwischen1960 und 1975 geboren wurde.
*** Wir erleben gerade wieder einen Krieg mit Menschen auf der Flucht. Wieder Vertreibung, wieder Gewalt, wieder Traumatisierungen. Wieder wird es Generationen geben, die unter dem Erbe des Kriegs leiden wird.
Die Krise lugt ums Eck
Vielleicht ist es die Beschäftigung mit diesem Thema, dass mich seit meines Lebens begleitet. Vielleicht hat sie aber auch nur auf ihre Chance gewartet. Heute Nacht nahm sie Gestalt an. Die Krise.
Mehrere schlaflose Stunden mit fragenden Gedanken verbracht. Mit noch mehr Zweifeln. Mit noch mehr: Will ich wirklich so weiterleben? Schlimmer noch. Das Gedankenkarussell drehte sich in eine Richtung in die ich ganz bestimmt nicht will. Ich stellte 30 Jahre meines Lebens in Frage und nicht nur die.
Immerhin war ich noch so klar im Kopf, dass ich die ersten 20 Jahre als völlig okay und in Ordnung befand.
Gleichzeitig merkte ich beim Wandern durchs Haus, dass ich, wenn ich mich diesen Gedanken hingebe, sofort in etwas gerate, von wo ich mich alleine nicht mehr rauskämpfen mag, nein, nicht rauskämpfen kann.
Ach ja, kämpfen. Ich mag auch nicht mehr kämpfen. Ich würde gerne einfach nur mal sein.
Einladung zu bleiben – vielleicht ist es auch keine richtige Krise, sondern der Beginn einer Metamorphose
Irgendwann wieder ins Bett. Die Hoffnung auf Schlaf erfüllte sich nicht. Die Krise blieb hartnäckig. Ich lud sie ein bei mir zu bleiben. Jedenfalls für eine Weile. Sie darf mich jetzt eine Weile begleiten. Vielleicht ist sie ja auch da, weil ich mich verändere, weil die Welt da draußen sich verändert, weil es darum geht, Altes loszulassen, endgültig loszulassen. Auch nicht vollendetes. Dafür andere Dinge zu Ende zu bringen. Auch so ein Ding von Kriegsenkeln, leben im Provisorium. Dinge nicht bis zur Umsetzung zu bringen, nicht zu Ende bringen.
Wie viele Ideen schlummern und schlummerten hier schon in der imaginären Schublade? Wie viele Ideen wanderten weiter zu Menschen, die sie umsetzten.
Wie lange lebe ich jetzt schon hier in einem Provisorium? Auf einer Baustelle? Viel zu lange. Mein Leben eine einzige Warteschleife. Ich weiß nur nicht auf was ich eigentlich warte. Manchmal fühlt es sich an, als sei ich auf der Flucht und irgendwo gestrandet, wo die falschen Züge fahren. Oder sind es die richtigen und ich kann mich nur nicht entscheiden einzusteigen? Mich auf eine Richtung festlegen? Ich weiß es nicht.
Es wird Zeit, Zeit für etwas Anderes. Ich habe noch keine Ahnung, wo mich das alles noch hinführt. Wie oft ich hier noch meine Gedanken dazu niederschreibe. Ich habe auch keine Ahnung, wie lange die Krise hier bleiben wird. Ich weiß nur, dass sie sich nicht mehr abwimmeln lässt. Sie will, dass ich mich ihr stelle mit all den Fragen, die sie an mich hat, und ich, ich weiß nicht, ob ich die Kraft dafür habe. Denn ich weiß, es wird unangenehm und unbequem werden.
Durchs Tal der Tränen
Ich werde durch das Tal der Tränen gehen müssen. Ich habe sie ja im Nacken gespürt. Wusste, dass sie lauert. Wusste, dass ich mich Unbequemen stellen muss, wenn ich an meinen Selbstzweifeln, an meinen Lebensthemen arbeiten will. Wenn ich mir endlich nicht mehr selbst im Weg stehen will. Es hatte schon seinen Grund, warum ich mich rechtzeitig bei meinem Seelentherapeuten gemeldet habe. Das es mich jetzt so erwischt, konnte ich nicht voraussehen. Nun ist es wie es ist. Ich ahne, dass es schmerzhaft werden wird. Metamorphose.
Bilder: canva.com